Die Bauarbeiter, Daniel Koch und ich

Es gibt Leute, die sagen, die Corona-Krise sei eine Gesundheitskrise, andere sagen, es handle sich um eine Wirtschaftskrise – ich sage,  sie ist eine Sinnkrise.

Ich sitze seit Tagen im Home-Office und gucke dabei den Bauarbeitern auf dem Dach des entstehenden Neubaus vor meinem Haus zu. Seit ich hier am Fenster sitze und von zu Hause aus arbeite, haben sich unsere Arbeitsrhythmen aneinander angeglichen. Um 7 Uhr machen die Bauarbeiter die lautesten Arbeiten. Die Botschaft: Guten Morgen, Leute, wir sind auf und fleissig! Auch ich fahre noch im Pyjama meinen Laptop hoch und haue die ersten E-Mails mit der gleichen Botschaft raus: Guten Morgen Leute, ich bin auch auf und ich bin auch fleissig! Danach wird es – zumindest bei mir – ziemlich ruhig. Der Zürcher Gemeinderat tagt während des Lockdowns nicht, Veranstaltungen sind auf Eis gelegt… Auch die Bauarbeiter führen nun ruhigere Arbeiten aus, kommen aber stetig voran. Um 9 Uhr machen wir Kaffeepause, um 12 Uhr wird es für eine Stunde still und spätestens um fünf ist Schluss. Meine Abende verbringe ich dann mit Daniel Koch – er am Bildschirm, ich auf dem Sofa. Der Leiter „Übertragbare Krankheiten“ des BAG informiert über das Corona-Virus (heisst es eigentlich der oder das Virus?), die Fallzahlen, die gesundheitlichen Entwicklungen. Müde schaut er aus und irgendwie ungesund. Der hat es sicher streng.

Weil die Bauarbeiter, Herr Koch und ich in letzter Zeit so ein eingeschworenes Team sind, weil jetzt manche ganz viel, andere ganz wenig und wieder andere gar nichts mehr zu tun haben, weil die einen bei der Arbeit ihr eigenes Leben riskieren, das Leben anderer retten und dafür zwar schlechte Löhne aber Applaus kriegen während die anderen sicher im Home-Office sitzen und einen dicken Zahltag einstreichen, weil ganz Viele helfen möchten und zum Daheimbleiben verknurrt sind, drängt sich bei mir schon die Frage nach dem Sinn der Arbeit auf.

Eine E-Mail reisst mich aus meinen Gedanken. Ich soll einen Bürgerbrief im Namen des Stadtrats beantworten. Ich leite die E-Mail an die zuständige Dienstabteilung weiter. Die schreiben mir zurück, dass sie den Auftrag zur Beantwortung schon längst von jemand anderem erhalten haben und schicken mir den Vorschlag für die Antwort. Der Vorschlag ist gut und fixfertig ausformuliert. Eigentlich müsste ich ihn nur noch in die richtige Word-Vorlage kopieren und an meinen Chef schicken. Doch ich schreibe noch einen Einleitungssatz, stelle hier und dort noch etwas um… Der Brief ist jetzt nicht wirklich besser aber ein bisschen anders. Die Bauarbeiter haben inzwischen die Sparre des Daches montiert und Daniel Koch (oder wohl eher eine fleissige Mitarbeiterin) die Fallzahlen auf der BAG-Website aktualisiert. Ich warte auf die Rückmeldung zu meinem Brief vom Chef. Er ist mit dieser Version einverstanden und hat keine Änderungswünsche mehr. Jetzt geht der Brief noch an die Asssistentin für die letzte Kontrolle. Sie macht aus „Bewohnerinnen und Bewohnern“ noch „Bewohnende“, aus «und» «sowie» und fügt im letzten Satz noch ein Wörtchen ein. Nun geht der Brief zum Departementssekretär, der ihn dem Stadtrat zur Unterschrift vorlegen wird.

17 Uhr, die Bauarbeiter und ich sind müde. Ich habe mit meiner sinnentleerten Aktenschieberei gut verdient – sie wohl weniger. Am meisten von uns verdient wahrscheinlich Herr Koch, der in zweieinhalb Stunden wieder in der Tagesschau auf meinem Fernsehbildschirm erscheinen wird. Und was kriegen die Fachfrauen Gesundheit im KSW, die Frauen an der Migroskasse und die Männer hinten auf dem Müllabfuhrwagen für ihre Arbeit?

Wir können nicht alle auf dem Bau, an der Kasse, im Spital oder bei der Abfallentsorgung arbeiten – aber irgendwie zeigt uns diese Corona-Krise, dass in unserer Arbeitswelt und in unserem Verständnis von Sinn und Wert etwas ganz und gar nicht stimmt.

Der Lampenschirm auf Umwegen zum Frisör

Es war einmal ein Lampenschirm,
der wollte zum Frisör.
Die Fransen waren ihm zu lang,
was seinen Ausblick stör.

Doch leider war der Lampenschirm
nicht so richtig helle.
Er nahm die falsche Strassenbahn
und fuhr nach Bonn statt Kölle.

Dort traf er einen Grammophon,
der hatte einen Platten
und stellt’ damit den Lampenschirm
gehörig in den Schatten.

Ein Schaukelstuhl kam angewippt
und rockt’ zum Beat der Platte.
Beinahe wär’ er umgekippt
weil er sie nicht alle hatte.

„Was hält mich eigentlich noch hier?“
der Lampenschirm fragt’s düster,
unter seiner Fransen Zier
fühlt’ er sich immer wüster.

Er nahm die nächste Strassenbahn
direkt nach Köln und fand
dort seinen alten Stammfrisör,
der stutzt‘ den Fransenrand.

Glück

Wiä uf em Riitiseil
das Gfühl isch zimli geil
dä Punkt, wod Bei füre i di läär Luft strecksch
und de Oberkörper hinenabe leisch
dä Momänt, wod i de Luft stahsch
wo’d nüme füre und nonig hindere gahsch
so fühl i mi
grad jetzt.
Mär seit däm „tote Punkt“
debii isch es de freischti Momänt
wo alles mögli isch
und du ganz bi dir sälber bisch
dä chlii Momänt
vom grosse Glück

Das Potential lauert überall

Neulich habe ich in einem Protokoll der Stadtverwaltung gelesen, dass man beabsichtige, den „grössten gemeinsamen Nenner“ zu finden. An dieser Formulierung bin ich hängen geblieben. Ich dachte immer, dass der gemeinsame Nenner von Natur aus klein sei. Je mehr Leute doch mitreden – und in der Verwaltung sind das aus Erfahrung immer mehr als genug , desto weniger Gemeinsamkeiten gibt es. Die Tatsache hatte ich noch nie hinterfragt, fand aber, dass „der grösste gemeinsame Nenner“ gut klang.

Kurz darauf im Pilates: Bisher mussten wir uns bei bestimmten Übungen hüftbreit hinstellen. Ich habe mir dabei nie etwas gedacht. Der Mensch ist nun mal – in der Regel – um die Schultern und die Hüfte breit, war also nichts verkehrt mit dem Wort hüftbreit. Doch neulich war ich bei einer anderen Kursleiterin, die verlangte, dass wir uns „hüftschmal“ hinstellen sollten. Ich war etwas verunsichert, hatte sich doch die Breite meiner Hüften – die ja, so viel ich von Anatomie verstehe – in erster Linie durch den Knochenbau bedingt ist – seit dem letzten Mal kaum verändert. Doch alle um mich herum stellten sich genau gleich breit, äh tschuldigung schmal, hin, wie schon immer.

Und dann hat neulich an einer Veranstaltung ein Professor von „Nahtstellen“ zwischen verschiedenen Organisationen gesprochen. Aus dem Zusammenhang wurde mir klar, dass er das meinte, was ich seit jeher «Schnittstelle» nenne. Hm, Nahtstelle klingt schön. Da kommt was zusammen. Wer näht, weiss aber, dass jede Nahtstelle einst eine Schnittstelle war und, wegen der Naht, auch eine Schwachstelle ist. Es sei denn, man näht die Naht doppelt.

Schmale Hüften, grosse gemeinsame Nenner und Nahtstellen. Ich sehe schon, dass ich noch ein happiges Defizit – nein, ich meine natürlich ein grosses Potenzial – habe, mir die Welt erfolgreicher, schlanker, positiver und einfach viel schöner zu reden. Ich bin trotzdem froh, dass ich für alle Fälle meine Bernina habe. Damit könnte ich mir die Nahtstellen von Kleidungsstücken an den Hüften jederzeit versetzen.

Das Bernina-Lied

Unser Leben gleicht der Reise
durchs Gewebe Stich für Stich
und wir surren dabei leise
morgends, abends, ewiglich

Aber unerwartet schwindet
just der rote Faden hin
und wer diesen nicht mehr findet
weiss weder woher noch -hin

Trotzdem lasst uns weiter nähen
folgt des Gewebes Fadenlauf!
einmal an der Webekante
hört die Ungewissheit auf

Mutig, mutig liebe Schwestern
zaget weder hier noch dort
morgen führt ihr heut’ wie gestern
euren Faden immer fort.

18 Euros für die Kunst

Seit dem Sommerhit 2019 habe ich meinen Blog vernachlässigt – Shame on me! Schon öfter wurde ich in den vergangenen Monaten von Freunden und Bekannten darauf angesprochen, ob ich denn nichts mehr schreibe. Ich sah mich gezwungen, das Offensichtliche zu bestätigen.

Nun wurde ich auch noch vom System darauf aufmerksam gemacht, dass die Zahlung für die Erneuerung meiner Domain http://www.schreibereien.com ansteht. Ein Wink mit der Kreditkarte, also. Und so war ich vor die Entscheidung gestellt, ob ich die 18 Euro nochmals bezahle oder ob ich das zum Anlass nehme, meinen Blog still und leise einschlafen zu lassen. Hm, mit 18 Euro kommt man ja nicht wirklich weit, zumindest nicht in der Schweiz. Sie würden für ein Kinoticket reichen – für die Popcorns müsste ich dann aber schon drauflegen. Mit der Bahn käme ich damit etwa von Winterthur bis Luzern und in einem durchschnittlichen Restaurant gäbe es vermutlich ein Kindermenü mit Himbeersirup. 18 Euro – ist mir das meine Domain Wert? Komm schon, sagte ich mir, sei kein Geizkragen. Die 18 Euro kannst du aufbringen. Jetzt hast du deinen Blog schon so lange, wäre doch schade, alles hinzuschmeissen. Und so habe ich heute Morgen die Überweisung an das System gemacht. Die Domain wäre erst mal gerettet.

Das mit dem Geld war einfach, doch nun kommt der schwierige Teil. Die Musse zum Schreiben und die Ideen lassen sich nicht einfach aus dem Portemonnaie klauben. Und was nützt schon ein Blog ohne Inhalt? Doch woher soll ich die Ideen nehmen, wenn ich nun wegen der fehlenden 18 Euro nicht mehr ins Kino gehen, nach Luzern fahren oder mir im Restaurant ein Kindermenü bestellen kann? Stattdessen sitze ich einsam, ausgezehrt und abgeschirmt von äusseren Reizen in meiner luftigen Bude und starre auf den leeren Computerbildschirm. So ein Künstlerleben ist schon hart. Das wollte ich einfach mal zur Sprache bringen, ehe ich mir wieder etwas aus den Fingern sauge und es hier hoffentlich wieder so richtig losgeht.

Summer-Hit 2019

D Luft hät Fiäber

S Meteo hät wiä immer gseit, was mer au scho weiss
Mer sölli go bade, es wärdi drumm heiss
Aber nöd z schnäll is Wasser, will’s chalt seig im See
Und uf em Nufene obe heig’s im Fall no vill Schnee

Ref.
Meh als 37 Grad, das isch doch nüme gsund
D Luft hät Fiäber, da frögsch di nach em Grund
Essigsocke, Wadewickel, Paracetamol
Bi 37 Grad isch’s au em Summer nümm wohl

Aber es sind no drü Wuche bis zu de Summerferie
Und mis Büro z Züri nöd fit für e Hitzetagserie
D Ventilatore surred mit de Computer um d wett
Ach hetti doch Ferie, uf em Nufene wär’s nett!

Ref.
Meh als 37 Grad, das isch doch nüme gsund
D Luft hät Fiäber, da frögsch di nach em Grund
Essigsocke, Wadewickel, Paracetamol
Bi 37 Grad isch’s au em Summer nümm wohl

De Bund hät gwarnt und gseit mer sölli vill trinke
Und irgendwie fangt’s mir langsam aa stinke
Mir warned de Bund vor em Klimawandel
Er warnt eus vor de Hitz – so en Chuehandel!

Ref.
Meh als 37 Grad, das isch doch nüme gsund
D Luft hät Fiäber, da frögsch di nach em Grund
Essigsocke, Wadewickel, Paracetamol
Bi 37 Grad isch’s au em Summer nümm wohl

Upside down under

Platz ist etwas Relatives – so wie Zeit. Obwohl man Platz in Metern, Centimetern und Millimetern und Zeit in Stunden, Minuten und Sekunden messen kann. Das hat mich meine Reise nach Australien gelehrt. Die Australier, die haben ja Platz zum Versauen. Denen käme es nicht im Traum in den Sinn, mehrstöckig zu bauen. Wozu Treppen steigen, wenn der Platz in Hülle und Fülle vorhanden ist? Die haben Wohnzimmer in der Grösse von Turnhallen, Sofasessel so gross wie ein Mittelklassewagen, fünfspurige Strassen quer durch die Städte und fette Autos. Everything’s big in Australia! Weil aber alle so viel Platz beanspruchen, braucht es umso mehr Zeit um von A nach B zu gelangen.  Aber das ist egal, denn die Zeit ist in Australien sowieso komisch.

Wenn man nach Australien reist, dann verschiebt sie sich: Der Frühling wird zum Herbst, aus Sommerzeit wird Winterzeit und aus Tag wird Nacht. So war ich denn auch ziemlich verwirrt, als wir eines Tages am Strand über den Stand und die Bahn der Sonne diskutierten. Die Sonne war nicht dort, wo ich sie erwartet hätte. Ich war überzeugt, dass sie in Richtung Osten wandert. Die Australier konnten mich immerhin davon überzeugen, dass die Sonne am Mittag auf der südlichen Hemisphäre im Norden steht. Mit dem Sonnenaufgang und Sonnenuntergang wurden wir uns allerdings nicht einig. wir verblieben schliesslich so, dass die Sonne in Australien eben nicht zringelum sondern backwards und forwards geht. Alles ist eben relativ – aber auf den gutschweizerische Kompromiss kann man sich immer und überall verlassen.

Nostalgie

„Herzlichen Glückwunsch zum Jahrestag, du hast dich vor vier Jahren auf WordPress registriert“, heisst es heute in meiner Nachrichtenbox von „www.schreibereien.com“. Hm, dann ist es vielleicht doch wieder einmal an der Zeit, etwas zu schreiben. Ich war in den vergangenen drei Monaten ja nicht sonderlich aktiv.

Der Glückwunsch zum Jahrestag meines Blogs passt gerade gut in meine Stimmung.  Es ist nämlich so, dass ich vor 30 Jahren – am 13. Januar 1989 – ins Austauschjahr nach Australien abgereist bin und mich derzeit in einer Nostalgie-Wolke bewege. Erst habe ich mein Tagebuch von damals wieder gelesen. Diese Woche habe ich mich hinter die Briefe gemacht, die mir 1989 von meiner Familie, Freundinnen, Freunden, Verwandten und Bekannten geschickt worden waren. Und ausgerechnet heute habe ich einen Brief von meinem Deutschlehrer an der Kantonsschule Zürcher Oberland gelesen, der mir damals sein Feedback für meinen Aufsatz, den ich kurz vor meiner Abreise noch geschrieben hatte, auf Schreibmaschine tippte und nach Australien schickte. Sinnigerweise ging es im Aufsatz um das Thema Zeit. Mein Deutschlehrer ist vor ein paar Jahren leider verstorben, das macht diesen Brief für mich umso wertvoller. Leider ist er nicht der Einzige, der mir damals geschrieben hat und heute nicht mehr lebt.

Die Briefe von 1989 sind auf hauchdünnes Luftpostpapier gekritzelt. Manche schickten sogenannte Aerogramme, die man sorgfältig öffnen musste, da der Umschlag auch gleich das Briefpapier war. Bei vielen Umschlägen hatte ich damals die Briefmarken rausgeschnitten, weil meine australischen Gastschwestern Marken sammelten. Um Porto zu sparen, haben alle winzig klein geschrieben. Ein Luftpostbrief brauchte in der Regel fünf Tage von der Schweiz bis nach Australien. Dank dieser Briefe habe ich erfahren, dass im Winter 1989 kaum Schnee lag. Es war der trockenste Januar seit 100 Jahren. Dafür war es kalt und oft lag Hochnebel. Der Klöntalersee war schwarz gefroren. Im Januar wurde Kaspar Villiger als Nachfolger von Elisabeth Kopp in den Bundesrat gewählt. Monika Weber habe keine Chance gehabt, meinte mein Vater lakonisch in seinem Brief vom 1. Februar, der erst am 9. bei mir eintraf. Meine Schulkameradinnen hatten arg Stress, da die Lehrer kurz vor der Notenabgabe standen. Ausserdem standen der Skitag und das Skilager wegen Schneemangels auf der Kippe. Australien war damals sehr fremd und weit weg, sodass sie mich mit Fragen nur so löcherten.

Es ist so toll, diese Briefe zu lesen! Eigentlich nehme ich mir jeweils vor, nur einen am Tag zu lesen, aber dann werde ich süchtig und ziehe mir gleich mehrere rein. Übrigens werde ich – als Höhepunkt meiner Nostalgia – dieses Jahr nach Australien reisen. Für die Zusammenkunft mit meiner australischen Schulklasse, die während meines Aufenthalts anberaumt ist, möchte ich noch eine VHS-Kassette auf DVD überspielen und eine Tonbandkassette ist da auch noch… Es lebe die Nostalgie!

 

Der Rest ist Schweigen

Am Samstag habe ich mal wieder richtig der Kultur gehuldigt: Erst Abendessen im Restaurant Kunsthaus und dann Besuch des Theaterstücks „Hamlet“ im Schauspielhaus. Es ist ewig her, seit ich das letzte Mal im Zürcher Schauspielhaus war und auch seit ich „Hamlet“ im Proseminar am Englischen Institut gelesen habe. Einzig das Zitat: „To be or not to be“, ist mir noch in Erinnerung geblieben.

Allein, dass ich den Inhalt des Stücks so ziemlich völlig vergessen hatte, war schon eine Herausforderung. Kam hinzu, dass der „Hamlet“ zweieinviertel Stunden dauern sollte – ohne Pause. Entsprechend lang war die Schlange vor der Damentoilette kurz vor Beginn der Vorstellung. In meinem Fall kam noch eine weitere Herausforderung hinzu: Halsschmerzen mit Hustenreiz. Dementsprechend hatte ich mich mit einem Schächtelchen Ricola-Kräuterbonbons bewaffnet. Dabei war mir egal, wer Ricola erfunden hatte, Hauptsache die Bonbons nützten. Und so sass ich neben zwei Freundinnen erwartungsvoll im Saal. Langsam ging das Licht aus, das Gemurmel im Publikum verstummte und vorne auf der Bühne begann das Stück. Ich steckte mein erstes Hustenbonbon in den Mund. Kaum war ich damit fertig, das zweite – mein Reizhusten hatte keine Chance.

Auf der Bühne vorn nahm das Spektakel seinen Lauf. Ich gewöhnte mich langsam an das Shakespear’sche Hochdeutsch und begann mich zu entspannen. Mit der Zeit verlängerte ich die Abstände zwischen den Hustenbonbons. Mein Vorrat würde nicht ewig reichen und ein bisschen husten zwischendurch war ja o.k. Das taten Viele, meistens dann, wenn auf der Bühne vorn Musik gespielt wurde. Dann wurde im Saal kräftig abgehustet. Als Rosenkranz und Güldenstern zum ersten Mal auf die Bühne traten, begannen mir die Gedärme wehzutun. Die Ricola-Hustenbonbons waren zuckerfrei und hatten deshalb eine abführende Wirkung. Mist, ich hätte doch nicht so viele hintereinander lutschen sollen. Sie vertrugen sich schlecht mit dem Krautsalat, den ich im Restaurant Kunsthaus gegessen hatte. Ich hatte zunehmend mit Bauchkrämpfen und Darmwind zu kämpfen – und richtig stellte Hamlet auf der Bühne vorn fest: „Etwas ist faul im Staate Dänemark“. Er hatte gerade Polonius, den Vater seiner geliebten Ophelia, erstochen, als ich – geplagt von zunehmendem Hustenreiz – wieder ins Schächtelchen mit den Ricola-Bonbons griff und feststellte, dass mir nur noch zwei Stück blieben. Ein Blick auf die Uhr sagte mir, dass das Schauspiel noch eine Dreiviertelstunde dauern würde. Bauchweh, Darmwind und Hustenreiz quälten mich immer mehr. Zum Glück bekämpften sich nun Ophelias Bruder Laertes und Hamlet mit Schwertern. Die Szene war ohne Dialog und so konnte ich etwas hemmungsloser husten, also so bis mir die Augen tränten. Nun musste ich zu meinem Schreck auch noch feststellen, dass mein Beckenboden langsam nicht mehr mitmachte.

Ich fragte mich, wessen Pein grösser war, Hamlets oder meine. Aber das, so sagte ich mir, sei ja der Sinn einer Tragödie, dass man sich mit dem Helden identifiziert und dann gereinigt aus der Vorstellung geht. Oder war es bei mir vielmehr der Katarrh, der zur Katharsis führte? Jedenfalls war ich unglaublich erleichtert als Laertes und der König erschlagen und Hamlets Mutter vergiftet auf der Bühne lagen. Tief erschüttert sagte Hamlet: „Der Rest ist Schweigen“. Und ich hätte schwören können, dass er dabei leicht genervt in meine Richtung sah.