Die deutsche Bahn in den Karpaten

In letzter Zeit ist in meinem sozialen Umfeld eine wahre Karpaltunnelepidemie ausgebrochen. Auf jeden Fall kenne ich mehr Leute, die Probleme mit dem Karpaltunnel haben, als die an Corona erkrankt sind. So Viele haben Gefühlsstörungen oder ein Kribbeln in den Händen. Nach einem Besuch beim Neurologen heisst es dann oft: das Karpaltunnel muss operiert werden. Dabei wird über einen kleinen Schnitt in der Handinnenfläche das Band durchtrennt, das den Karpaltunnel auf der Handinnenseite begrenzt. Gestern erzählte ich meinen Eltern davon, dass wieder eine Freundin von mir diesen Eingriff machen müsse. Mein Vater meinte, dass ihm nachts auch oft die Hände einschlafen. «Vielleicht hast du ja auch das Karpaltunnelsyndrom», sagte ich. Wir spazierten weiter und meine Mutter zählte nun ihrerseits alle Fälle mit Karpaltunnelsyndrom in ihrem Freundeskreis auf. Plötzlich fragte mein Vater: «Wie kann man dieses Karpatentunnel denn operieren?»  

Themenwechsel: In Rheinau ist dieses Wochenende Chilbi. Sie ist nicht sehr gross, da Rheinau ein überschaubares Dorf in der Rheinschlaufe ist. Nichtsdestotrotz war die Chilbi natürlich Thema Nummer eins bei der Arbeit in der Restaurantküche heute. Während wir die Salate und das Menü für den Mittag vorbereiteten, wollte ich wissen, was es denn alles so an Bahnen gebe. «Ein Karussell, einen Schiessstand und so eine Art Riesenrad, bei dem die Sessel noch um sich selber drehen», zählte die Köchin auf, «und natürlich eine Tütschibahn». Wir plauderten weiter über die Tütschibahn, zu Neudeutsch «Autoscooter», die doch das Herzstück jeder Dorfchilbi sei. Jede wusste noch eine Story aus alten Zeiten, die sich auf der Tütschibahn abgespielt hatte. Wir wurden fast ein bisschen nostalgisch und überlegten gar, ob wir nach der Arbeit noch auf die Tütschibahn an der Rheinauer Chilbi gehen sollten. Da fragte die Kollegin aus Süddeutschland plötzlich: «Was habt ihr eigentlich immer mit der tüütschen Bahn?».

Der Karpatentunnel und die tüütschi Bahn – wie ich doch solche Wortkreationen und Verfremdungen liebe! Vielleicht wäre es gar keine schlechte Idee – jetzt, wo es der SBB wegen Corona so schlecht geht – wenn die tüütschi Bahn über die Grenze nach Rheinau kommen würde. Und wer weiss, vielleicht würde die tüütschi Bahn eines Tages sogar eine Verbindung anbieten, mit der man im Hochgeschwindigkeitszug durch den Karpatentunnel fahren könnte.

Die haben ja nicht alle Wagen am Zug!

Vorgestern bin ich wieder mit der deutschen Bahn gereist. Die Reise begann frühmorgens um 7:12 Uhr. Nachdem wir uns im Morgengrauen aus unseren Betten gequält und mich meine Freundin zum Bahnhof gefahren hatte, hatte die S-Bahn „wegen Abwarten eines verspäteten Intercity-Zuges“ ihrerseits Verspätung. Doch während S-Bahnen verspätete Intercity-Züge abwarten, warten Intercity-Züge leider keine verspäteten S-Bahnen ab. Wo kämen wir denn da hin? Und so hatte ich das Nachsehen. Mein ICE nach Karlsruhe war weg, als ich um viertel vor Acht in Nürnberg einfuhr. Leider musste ich am DB-Schalter in Nürnberg ziemlich lange warten bis ich mein Sparticket umbuchen konnte, sodass in der Zwischenzeit auch der Zug mit der Verbindung via Frankfurt abgefahren war. Immerhin erhielt ich für die nächste Verbindung via Karlsruhe – zwei Stunden später – sogar meine Platzreservationen umgebucht.

Als ich nach einem Bummel durch die Bahnhofsgeschäfte und einer Tasse Tee mit meinem Rollköfferchen in die Bahnhofshalle zurückkehrte und auf die Abfahrtstafel schaute, stand da bei meinem Zug: „Dieser Zug verkehrt ohne Wagen 10“. Wie gut, dass meine Reservation für Wagen 9 war! Ich fand meinen Platz,  über dem „ggf. freigeben“ stand und auf dem schon ein Passagier sass. Der machte gutmütig Platz und setzte sich auf einen anderen Sitz, auf dem ebenfalls „ggf. freigeben“ stand. Ich sah mich um und stellte fest, dass über allen Sitzen „ggf. freigeben“ stand. Das habe mit dem Ausfall des Wagens 10 zu tun, erklärte mir eine andere Passagierin. Fand ich nicht logisch und vor allem nicht kundenfreundlich, aber egal.  Ich setzte mich.

Die Fahrt im ICE ohne Wagen 10 verlief ohne nennenswerte Zwischenfälle. Da es Mittwochvormittag war, war der Zug nicht überfüllt, sodass auch die wagenlosen Passagiere auf den freien Plätzen mit dem Vermerk „ggf. freigeben“ Platz fanden. Ich wunderte mich allerdings schon ein bisschen darüber, warum es ausgerechnet Wagen 10 nicht geschafft hatte, mitzufahren. Hatte er sich abgehängt und war irgendwo auf der Strecke stehen geblieben? War er unterwegs aus dem Gleis gesprungen und seinen eigenen Weg gegangen? Stand er ganz allein auf einem Abstellgleis oder hatte er sich einem anderen Zug angehängt und fuhr fröhlich durch deutsche Lande? Warum passierten bei der Deutschen Bahn immer wieder solche komischen Sachen und in der Schweiz nicht? Da plötzlich wurde mir klar, was es mit Wagen 10 auf sich hatte: Er war zu den SBB übergelaufen, weil er es satt hatte, mit „ggf. freigeben“-Anzeigen durch die Gegend zu fahren und immer zu spät zu kommen.

Vorsicht mit Vorurteilen

Die deutsche Bahn ist unpünktlich. Das weiss doch jeder. Und das ging mir auch durch den Kopf, als ich neulich in Hamburg auf dem Bahnsteig stand und die Durchsage kam, der Zug nach Frankfurt am Main-Kassel-Basel-Zürich-Chur, geplante Abfahrt um 10.24 Uhr, habe 20 Minuten Verspätung wegen einer Oberleitungsstörung. „Typisch“, dachte ich und sah vor meinem inneren Auge schon die roten Lichter meines Anschlusszuges in Basel.

Doch wenn man so viel in Deutschland reist wie ich, kann einen das nicht mehr umhauen. Cool packte ich mein Köfferchen und ging die Rolltreppe hoch. Ich würde die Zeit nicht wie die anderen Reisenden sauer wartend auf dem Bahnsteig verbringen sondern mich noch etwas im nahegelegenen Buchladen umsehen, wo ich vorhin schon war. Allerdings nicht zu lange, denn die zwanzig Minuten könnten sich im besten Fall ja noch etwas verkürzen. Nach sechs Minuten im Buchladen ging ich zum Bahnsteig zurück. Auf der Anzeige stand nun, der Zug würde sich nur noch um 10 Minuten verspäten. „Sehr schön“, dachte ich und beglückwünschte mich dafür, dass ich schon zurück und mein Plan aufgegangen war. Ich weiss halt, wie hier der Hase läuft.

Ich positionierte mich neben den Mülleimern – ich habe das deutsche System der Mülltrennung bis heute nicht verstanden – und schaute mich um. Der Bahnsteig erschien mir seltsam leer. „Da haben sich wohl noch andere verkrümelt um ihre Wartezeit sinnvoll zu nutzen“, dachte ich. Es kam keine Durchsage mehr und irgendwann verschwand auch die Anzeige von „meinem“ Zug auf dem Display. Keiner da, den man fragen konnte, keine weiteren Durchsagen. Ich wartete noch ein Weilchen und ging dann so beunruhigt wie empört in Richtung DB Reisezentrum.

Am Schalter machte ich eine ziemliche Szene. Der junge Herr erklärte mir, der Zug sei um 10.29 Uhr gefahren. „Mist“, dachte ich und zeterte weiter. Ich hatte nämlich ein Sparticket mit Zugbindung und mir war schon mal passiert, dass ich ein Sparticket für den Nachtzug mit dem falschen Datum hatte. Vielleicht war ja auch ich falsch, egal. Jedenfalls lag schon jemand in „meinem“ Bett und der Schaffner liess mich damals ein neues Ticket zum vollen Preis bezahlen. Das sollte mir nicht nochmals passieren. Ich zeterte also weiter und argumentierte, dass 20 Minuten Verspätung und fünf Minuten Verspätung halt schon etwas ganz Anderes seien. Wahrscheinlich war ich die erste Kundin der Deutschen Bahn, die sich je um zu wenig Verspätung beklagt hatte. Aber das war mir egal. Ich sah das Unbehagen des jungen Mannes am Schalter, das mich zum Weiterzetern anspornte. Mein Auftritt wurde mit Erfolg gekrönt. Die Zugbindung meines Spartickets wurde „aus Kulanz“ aufgehoben, sodass ich mit dem gleichen Ticket zwei Stunden später reisen konnte. Somit hätten sich gleich zwei Vorurteile von mir zerschlagen: a) Die Deutsche Bahn ist weniger verspätet als man denkt und b) es gibt bei der DB auch kulante Bahnbeamte. Danke schön!

Nachtrag: Auch der Zug um 12.24 Uhr hatte Verspätung. Grund dafür war diesmal ein Gleisbruch. Ich blieb zum Warten auf dem Bahnsteig und die auf dem Display angekündigte Verspätung von 10 Minuten wurde eingehalten.