Die Wandergesellinnen und das Panorama

Es waren einmal zwei Wandergesellinnen. Die wanderten so gern im herbstlichen Tösstal. Kein Berg war ihnen zu hoch, keine Flanke zu steil und kein Abstieg zu beschwerlich. Sobald das Wetter es zuliess, packten sie ihre Rucksäcke und zogen los. Besonders gern bestiegen sie das Hörnli. Mit der Zeit wurde es zur Tradition, dass sie ihr Mittagessen vor dem Gipfel einnahmen, damit sie oben im Bergrestaurant den Kaffee geniessen konnten. Sie suchten sich ein sonniges Plätzchen, von wo sie einen schönen Ausblick hatten, setzten sich ins Gras und kramten in ihren Rucksäcken. Redlich teilten sie ihr Essen. Sie schlugen hart gekochte Eier auf, Füdle-Spitz, und assen frisches Obst vom Winterthurer Wochenmarkt. Sie verzehrten ihr Essen mit gutem Appetit. Danach legten sie sich für ein Verdauungsnickerchen ins weiche Gras und streckten ihre runden Bäuche der Sonne entgegen.

Eines Tages, sie waren schon auf dem Abstieg in Richtung Sternenberg, kamen sie just in dem Moment an einem prächtigen Aussichtspunkt vorbei, als sich das Panorama im schönsten Licht zeigte. Die sanften grünen Hügel des Tösstals betteten die Glarneralpen so harmonisch ins Bild, dass es ein Fest fürs Auge war. Die Abendsonne tauchte diese alpine Komposition in güldenes Licht. Das Ganze war von einer Schönheit, wie es die beiden Gesellinnen noch nie gesehen hatten. Eine tiefe Sehnsucht ergriff sie und der innige Wunsch, dieses Panorama in diesem Licht für immer einzufangen und für sich allein zu besitzen. Gierig rissen sie sich ihre Säcke vom Rücken und wühlten hastig in den Aussentaschen. Eine jede brachte ein digitales Gerätchen zum Vorschein. Damit wollten sie das Panorama für immer für sich einfangen. Wie besessen von diesem Wunsch vergassen die Gesellinnen ganz, dass sie noch vor Kurzem ihr Essen so redlich geteilt hatten. Nun war sich jede selbst die nächste. Jede wollte ihr Panorama für sich, ohne Rücksicht auf Verlust. Und so kam es, dass…

Zum Glück waren die digitalen Gerätchen derart ausgestattet, dass sich das Panorma mehr als einmal einfangen liess. Das wurde auch der Gesellin klar, die auf so unverschämte Weise um ihr Panorama betrogen worden war. Und so konnte sie diese rohe Tat, wenn auch mit etwas Verzögerung, doch mit Humor nehmen. Was für ein Glück!

Man munkelt, die beiden Gesellinnen seien wenige Tage später wieder auf dem Hörnli gesehen worden und hätten dort mit ihren digitalen Gerätchen nicht nur das Panorama sondern auch das Nebelmeer festgehalten. Wer weiss, wann sie das nächste Mal durch die Tösstaler-Hügel streifen, hart gekochte Eier aufschlagen und mit ihren digitalen Gerätchen ihr Unwesen treiben.

Auf dem Hörnli

Ich sitze im Bergrestaurant auf der Sonnenterrasse und fische die letzten Salatblätter aus der rahmigen Sauce meines Wurst-Käse-Salats, garniert. Die Sauce macht den sündigen Cervelat zur Todsünde – und am Schluss ist davon immer zu viel. Drei Biker über fünfzig im hautengen Bikerdress fahren mit letzten Kräften über die Wiese zum Funkturm. „Dreiundfünfzig!“, klingt es aus dem Lautsprecher des Bergrestaurants Hörnli. Ein Mann am Nachbartisch springt auf und eilt mit seiner Quittung zur Essensausgabe. Ein älteres Pärchen mit Hund sucht sich einen Tisch an der Sonne. Unter jedem zweiten Tisch, an dem sie vorbeigehen, knurrt und bellt es. Entlang der Hauswand, dort wo die Liegestühle stehen, sonnt sich eine Frührentnerin mit von der Sonne gegerbter Haut sehr konzentriert. Ob man brauner wird, wenn man sich voll und ganz aufs Sonnenbad einlässt? Sie hat kein Gramm Fett und ist in knallbunter, funktioneller Wanderausrüstung gekleidet. Es ist aussergewöhnlich warm für einen Oktobertag. Der Dunst hat die Rigi verschlungen, die bunten Blätter der Platanen neben der Terrasse zittern im Wind. Hinter mir gönnt sich ein Paar eine Portion Vermicelles in andächtiger Stille. Der Vater vom Nachbartisch kommt zum dritten Mal mit einem vollen Tablett an den Tisch seiner Familie zurück: Erst das Schnitzel-Pommes-Frites für die jüngsten beiden Töchter, dann zwei Portionen Älplermacronen für sich und die älteste und nun bringt er noch die Kürbissuppe für seine Frau. 95 Franken, fast einen Hunderter, hat ihn das Essen für seine Familie gekostet. „Siebenundfünfzig!“, klingt es aus dem Lautsprecher. Ein leichter Windstoss lässt einige Blätter an den Platanen fallen. Ihre Zeit ist gekommen. Sie tanzen ihren letzten Tanz, ehe sie am Boden leicht und sacht in ihr letztes Ruhebett fallen; von Blatt zu Laub werden. Schon ist es im Schatten der Platanen zu kühl zum Sitzen. Ich gehe nochmals hoch zum Kulm, lege mich ins Gras und schliesse die Augen. Eigentlich viel zu schade, bei der schönen Aussicht. In der Ferne erkennt man den Säntis und viel näher schon den Bachtel; davor die bunt bewaldeten Hügel des Tösstals. Alles so vertraut, schon immer da gewesen. Schön, wieder zu Hause zu sein. Ich strecke mich ein letztes Mal und gähne. Dann packe ich meine sieben Sachen zusammen und mache mich auf den Abstieg nach Bauma. „Achtundsechzig!“, ruft mir die Stimme aus dem Lautsprecher noch nach.