In dringender Mission

Wann hat es eigentlich damit angefangen, dass die Leute im Zug auf halber Strecke schon wieder aufstehen und sich von den Türen bis in die Flure anstellen, um möglichst schnell wieder aus dem Zug auszusteigen? Früher musste man nur beim Einsteigen um seinen Platz kämpfen. Wenn man einen hatte, also eigentlich immer, erfreute man sich dessen so lange wie möglich und stand erst auf, wann der Zug schon in den Bahnhof einfuhr. Heute stehen die Ersten auf, sobald der nächste Halt angesagt wird und das ist in der Regel bevor der Zug überhaupt in den Ort einfährt und lange bevor der Bahnhof in Sicht kommt. So kommt es, dass der ganze Flur jeweils schon vollgestellt ist, bevor man «Papp» sagen kann. Oft hat man in den letzten Fahrminuten schon die Rucksäcke und Handtaschen der aufgestandenen Passagiere im Gesicht. Ihre Hände krallen sich in die Griffe an den Hinterköpfen der Sitzenden oder sie halten sich an den Gepäcksablagen über deren Köpfen fest. Wann dann der Zug in den Bahnhof einfährt, muss man sich von seinem Abteil mühsam in den Flur drängen. Kurz, beim Aussteigen herrscht das gleiche Gerangel wie beim Einsteigen. Das Gleiche gilt übrigens im Flugzeug. Da habe ich also auch schon erlebt, dass einer, der neben mir am Fenster sass, sich beim Aussteigen an mir am Gangsitz vorbeigedrückt hat, notabene als das Anschnallen-Zeichen über unseren Köpfen noch an war. Ich hatte dem Reflex, ihn in den Hintern zu beissen nur mit voller Körperbeherrschung widerstanden. Und das war gut, denn wir standen später bei der Gepäcksausgabe wieder nebeneinander und warteten mehr oder weniger ungeduldig auf unsere Koffer.

Mich nervt diese ungeduldige Zwängerei. Was treibt diese Leute so an? Es würde mir extrem helfen, wenn ich wüsste, dass sie dafür einen wichtigen Grund haben. Zum Beispiel dass sie vergessen haben, den Herd abzuschalten und möglichst schnell nach Hause müssen, um einen Flächenbrand zu verhindern; dass sie spät dran sind, um ihren Friedensnobelpreis abzuholen; dass sie ihre Ehe, eine Katze vom Baum, das Klima, die Weltmeere, den Eisvogel oder sonst irgendetwas retten müssten. Wenn das so wäre, wäre ich die letzte, die ihnen im Weg stehen würde. Dann würde ich gelassen sagen: «Nach Ihnen». Endlich zu Hause angekommen, würde ich mich dann, im Gegensatz zu allen anderen, gemütlich mit einer Tüte Chips vor den Fernseher setzen.

Die haben ja nicht alle Wagen am Zug!

Vorgestern bin ich wieder mit der deutschen Bahn gereist. Die Reise begann frühmorgens um 7:12 Uhr. Nachdem wir uns im Morgengrauen aus unseren Betten gequält und mich meine Freundin zum Bahnhof gefahren hatte, hatte die S-Bahn „wegen Abwarten eines verspäteten Intercity-Zuges“ ihrerseits Verspätung. Doch während S-Bahnen verspätete Intercity-Züge abwarten, warten Intercity-Züge leider keine verspäteten S-Bahnen ab. Wo kämen wir denn da hin? Und so hatte ich das Nachsehen. Mein ICE nach Karlsruhe war weg, als ich um viertel vor Acht in Nürnberg einfuhr. Leider musste ich am DB-Schalter in Nürnberg ziemlich lange warten bis ich mein Sparticket umbuchen konnte, sodass in der Zwischenzeit auch der Zug mit der Verbindung via Frankfurt abgefahren war. Immerhin erhielt ich für die nächste Verbindung via Karlsruhe – zwei Stunden später – sogar meine Platzreservationen umgebucht.

Als ich nach einem Bummel durch die Bahnhofsgeschäfte und einer Tasse Tee mit meinem Rollköfferchen in die Bahnhofshalle zurückkehrte und auf die Abfahrtstafel schaute, stand da bei meinem Zug: „Dieser Zug verkehrt ohne Wagen 10“. Wie gut, dass meine Reservation für Wagen 9 war! Ich fand meinen Platz,  über dem „ggf. freigeben“ stand und auf dem schon ein Passagier sass. Der machte gutmütig Platz und setzte sich auf einen anderen Sitz, auf dem ebenfalls „ggf. freigeben“ stand. Ich sah mich um und stellte fest, dass über allen Sitzen „ggf. freigeben“ stand. Das habe mit dem Ausfall des Wagens 10 zu tun, erklärte mir eine andere Passagierin. Fand ich nicht logisch und vor allem nicht kundenfreundlich, aber egal.  Ich setzte mich.

Die Fahrt im ICE ohne Wagen 10 verlief ohne nennenswerte Zwischenfälle. Da es Mittwochvormittag war, war der Zug nicht überfüllt, sodass auch die wagenlosen Passagiere auf den freien Plätzen mit dem Vermerk „ggf. freigeben“ Platz fanden. Ich wunderte mich allerdings schon ein bisschen darüber, warum es ausgerechnet Wagen 10 nicht geschafft hatte, mitzufahren. Hatte er sich abgehängt und war irgendwo auf der Strecke stehen geblieben? War er unterwegs aus dem Gleis gesprungen und seinen eigenen Weg gegangen? Stand er ganz allein auf einem Abstellgleis oder hatte er sich einem anderen Zug angehängt und fuhr fröhlich durch deutsche Lande? Warum passierten bei der Deutschen Bahn immer wieder solche komischen Sachen und in der Schweiz nicht? Da plötzlich wurde mir klar, was es mit Wagen 10 auf sich hatte: Er war zu den SBB übergelaufen, weil er es satt hatte, mit „ggf. freigeben“-Anzeigen durch die Gegend zu fahren und immer zu spät zu kommen.

Klassenzusammenkunft

Gestern fuhr ich mit dem Zug von Bern nach Zürich. Am Abend sollte die Klassenzusammenkunft mit meiner Gymi-Klasse stattfinden. Ich wählte meine Kleider an jenem Morgen etwas bewusster als auch schon, inspizierte beim Blick in den Spiegel meine grauen Haarsträhnen, die Augenfältchen und dachte, dass mich wohl noch niemand von meiner damaligen Klasse mit Brille gesehen hat. Es geht allen gleich, tröstete ich mich, verabschiedete mich von meinem Spiegelbild und stieg mutig in den Zug. Der Zufall wollte es, dass im Abteil schräg hinter mir zwei schwerhörige Rheintalerinnen sassen, die offensichtlich ebenfalls auf den Weg zu einer Klassenzusammenkunft waren. Ich packte mein Strickzeug aus und hatte auf dem ganzen Weg nach Zürich beste Unterhaltung. Ich schätzte die beiden Damen auf Jahrgang 1945. Erst wurden die Kolleginnen und Kollegen ihrer ehemaligen Schulklasse durchgenommen. Wer war gestorben, wer litt an welcher Krankheit, wer wohnte wo, geschieden oder mit einem neuen Partner zusammen. Dann ging man über zu deren Geschwister. Als auch dieses Thema erschöpft war, sprachen die beiden Frauen von ihren Enkelkindern. Wie oft sie diese hüteten und wie wichtig ihre eigenen Grosseltern für sie damals gewesen waren. Die eine meinte allerdings, ihre Basler Grossmutter hätte ihre Cousinen und Cousins lieber gehabt als sie. Ihr hätte sie immer nur so kratzige Strumpfhosen gestrickt. Ich war versucht, einzuwenden, dass es doch ein Liebesbeweis war, wenn man jemandem ein paar Strumpfhosen strickte. Aber halt, ich war ja im Zug und nicht beim Mitmach-Radio. Da galt es, die Privatsphäre der Damen zu respektieren. Der Zug hatte Olten passiert, da kam das Thema, wie nicht anders zu erwarten, auf Gebrechen, Abnützungserscheinungen, Operationen und Therapien. Naja, dachte ich, das finde ich jetzt nicht so interessant und hing meinen eigenen Gedanken nach. Aber dann, auf der Höhe von Dietikon horchte ich wieder auf. Die Rheintalerinnen redeten über eine Bekannte, die einen neuen Partner habe, mit dem sie aber nicht zusammenwohne. Sie würde das auch nicht mehr wollen, sagte die eine. Einen Partner, ja, aber zusammenwohnen, nein danke, bekräftigte die andere. Man habe inzwischen ja so seine Mödeli und, nun ja, es müsste einer also schon SEHR pflegeleicht sein, dass man ihn sich jetzt noch ins Haus holen würde. Ich strickte nachdenklich weiter und fragte mich, ob ihre Männer das auch so sehen würden.

Meine eigene Klassenzusammenkunft fand fast in reiner Frauengesellschaft statt, denn wir waren eine Lehramtsklasse. Wir redeten noch nicht über Gebrechen und gestorben war zum Glück auch noch niemand. Als Mittvierzigerinnen sprachen wir viel über Veränderungswünsche im Beruf, und natürlich wurden auf den Handys Fotos der Kinder gezeigt. Als ich auf dem Heimweg mein Strickzeug wieder hervorholte und den Abend in Gedanken Revue passieren liess, dachte ich, dass ein Thema im Gegensatz zu unserer Gymizeit doch sehr stiefmütterlich behandelt wurde: …

An dieser Stelle war eigentlich eine Pointe vorgesehen, doch die wurde auf halber Strecke zwischen Zürich und Bern vom Zug überfahren. Echt schade, ist das!

 

Umsteigen

Sie stehen auf Plattformen, Perrons und an Haltestellen: Jene, die einsteigen wollen. Sie drängen sich vor den Eingangstüren von Zügen, Bussen und Trams mit Taschen, Koffern, Mappen und Rucksäcken. Vor allem aber mit angespannten Kiefern und starrem Blick bauen sie sich vor den Eingängen auf, die ja auch Ausgänge sind für jene, die aussteigen. Leider aber können jene, die einsteigen wollen erst einsteigen, wenn jene, die aussteigen wollen vorher ausgestiegen sind, weil sie sonst gar keinen Platz haben, um mitzufahren. Und so machen sie unwillig mehr oder eher weniger Platz vor der Tür, die Nerven zum Zerreissen gespannt, um den Moment nicht zu verpassen, in dem der Letzte, der aussteigen wollte, ausgestiegen ist und sie, die ja einsteigen wollen, endlich einsteigen können.

Dabei könnten jene, die aussteigen, jenen die einsteigen wollen, ein Lied davon singen, was es heisst, an Bord zu sein und mitzufahren. Nun gut, zuerst war da die Euphorie, dass sie an Bord waren, dass sie sich einen Platz erobert und das Gepäck verstaut hatten, und dass sie sogar im richtigen Fahrzeug sassen. Da war die Genugtuung darüber, dass sie schnell und bequem an den gewünschten Zielort befördert würden. Doch spätestens dann, als der Bus die erste Vollbremsung machte, die Bahn mitten auf der Strecke still stand oder das Tram wegen eines Streckenunterbruchs umgeleitet wurde, wich diese Genugtuung einem Unbehagen. Das Unbehagen darüber, dass sie nicht selbst am Steuer sassen sondern nur mitfuhren und weder über die Richtung noch über das Tempo ihrer Reise entscheiden konnten. Und zu guter letzt konnten sie an Bord meist auch ihren Sitznachbarn nicht auswählen. So kann es vor, dass sie während der ganzen Fahrt irgendwelches Geschepper aus Kopfhörern mitanhören mussten, oder der Nachbar zog im 10-Sekunden-Takt die Nase hoch, oder die Frau vis-à-vis machte am Handy mit ihrem Freund Schluss oder einer schräg gegenüber verschlang ein Happy-Meal von McDonalds.

Und so kommt es, dass jene, die an Bord waren, nichts lieber wollen als wieder aussteigen. Darum gaben sie ihre hart erkämpften Plätze schon Minuten bevor ihr Fahrzeug an ihrem Zielort ankam frei und standen in den Gängen. Und wie nun die Türe aufgeht, sind ihre Kiefer genauso verspannt, die Augen genauso starr und ihre Körperhaltung ebenso kompromisslos wie bei denen, die einsteigen wollen.

So stehen sie sich stumm und verbissen gegenüber; jene, die einsteigen und jene, die aussteigen. Es ist ein magischer Moment, dieses unfreiwillige Innehalten beim Umsteigen. Ein Moment, der alle Möglichkeiten offen lässt, wäre da nicht die grosse Angst, den Anschluss zu verpassen.

Alles ganz normal!

Gestern im Zug sass ich auf dem Heimweg mit einem Ehepaar so um die 60 im Abteil. Die Beiden konnten nicht fassen, wieviele Menschen in Oerlikon auf dem Bahnsteig auf ihren Zug warteten. „Das Perron ist ja ganz schwarz vor lauter Menschen!“, sagte er. Sie nickte sprachlos. Und im Flughafen kommentierten sie die Züge, die ein- und ausfuhren mit grossem Erstaunen. Jeder Zug war voll! Als wir kurz vor Winterthur parallel zur Strasse fuhren, zeigte sie mit gefallener Kinnlade und grossen Augen auf die Autoschlange, die sich da staute.

Ich wiederum wunderte mich über das Wundern dieses wunderlichen Paars. Ich fragte mich, wo und wie man in der Schweiz heute leben kann, um sich an einer solchen Alltäglichkeit dermassen zu ergötzen. Das ist doch alles ganz normal! Ich begann mir auszumalen, wie die beiden Abend für Abend irgendwo in einem abgelegenen Chrachen auf dem Ofenbänkchen sitzen. Sie stopft Socken, er seine Pfeife. Sie hören das Wunschprogramm auf SRF1, das sie selbst immer noch Radio DRS nennen, und die Uhr an der Wand macht langsam Ticktack.

Ganz ehrlich gesagt, kamen mir plötzlich Zweifel, was nun eigentlich normal ist; der Stau und die überfüllten Züge oder das Ofenbänkchen. Zudem fragte ich mich, ob es auf Radio DRS auch schon so viele Staumeldungen gab wie auf SRF1. Und eigentlich hätte ich mich in dem Moment ganz gerne auf dem Ofenbänkchen im hintersten Chrachen ein Weilchen ausgeruht.

Von Dreck zu Dreck

Heute begann im Zug neben mir eine gepflegte Dame wie wild in ihrer Aktentasche zu graben. Dabei drang sie mit den Händen ganz nach unten vor und griff unter die Akten in der Tasche. Sie grub und grub, sodass ich schon ganz besorgt war, sie könnte sich die Arme oder die Handgelenke brechen. In Prisen förderte die Dame dann den Bodensatz ihrer Tasche zu Tage und streute ihn auf den Zugboden. Diesen Vorgang wiederholte sie so viele Male, bis der Taschenboden offenbar clean war. Ich dachte bei mir, dass sich das auch einfacher hätte bewerkstelligen lassen: Tasche ausräumen, auf den Kopf stellen und wieder einräumen. Doch wahrscheinlich war es ihr peinlich, den gesamten Inhalt herauszuholen. Zudem wäre dann doch etwas zu augenfällig gewesen, dass sie durch ihre Taschensäuberungsaktion den Zug verunreinigte.

Doch eigentlich ist es völlig egal, ob dieser Schmutz auf dem Taschenboden oder auf dem Zugboden wohnt. Denn im Grunde ist jede Reinigungsaktion bloss eine Verschiebung von Schmutz. Wenn man sich zum Beispiel die Hände wäscht, fliesst das verunreinigte Wasser in die Kläranlage, wo es gereinigt werden muss. Der Klärschlamm wird dann zuerst vergärt und hinterher in Kehrichtverbrennungsanlagen, Schlammverbrennungsanlagen und Zementwerken verbrannt. Durch die Verbrennung werden CO2 und andere Schmutzstoffe an die Luft abgegeben. Und was in der Luft ist, ist irgendwann wegen Photosynthese und so in den Pflanzen und was in den Pflanzen ist, landet irgendwann in Form von Gemüse, Getreide oder Fleisch wieder auf unserem Teller. Und vor dem Essen heisst es ja so schön, soll man sich die Hände waschen…

Kurz, wenn es um Schmutz geht, kann man seine Hände nicht in Unschuld waschen. Und selbst wenn man sie nicht wäscht, ist da Schmutz. Darum lautet meine heutige Weisheit zu Dreck: „Let it be!“, am liebsten aber „where it belongs“.

Wandervögel

Am morgen früh,
am Bahnhof Wil
da stehen sie
mit viel Kalkül
und entern roh
den ICE
nach Emmetschloo

Die Gruppe zwängt
sich durch den Gang
am Rucksack hängt,
mir wird ganz bang,
sodass der Spitz
nach oben zeigt
der Stock – kein Witz.

Die Häupter grau,
die Hemden bunt
kariert. Und Frau
und Mann zur Stund
sind wach und froh
und ziemlich laut.
Und rüstig sowieso.

Die Haut gegerbt,
die Waden stramm.
Ob man das erbt
am Maschgenkamm?
Von mancher Tour
berichten sie,
in Jahr’n davor.

Die Pendler still
entflieh’n ratzfatz,
denn jeder will
ja nur ’nen Platz
für sich und Ruh.
Nur ich, ich drück
ein Auge zu

und träume, dass
in dreissig Jahr’n
ich auch, sopass
noch Züge fahr’n,
die Schweiz bereis
in Wanderschuh’n
als froher Greis.

Gedanken

An meinem Kühlschrank hängt ein Magnet, da steht drauf: „Heut mach ich mir kein Abendbrot, heut mach ich mir Gedanken.“ Gestern bin ich dieser Aufforderung nachgekommen. Das ist ehrlich gesagt etwas ausgeartet. Wenn jemand auf eine meiner Fragen eine Antwort hat, wisst ihr ja, wo ihr mich findet. Also, ich habe mich gefragt, ob das Licht im Kühlschrank an ist, wenn die Türe zu ist. Wie das Zugteam aussieht, in dessen Namen mich jeden Morgen über den Lautsprecher im Zug eine freundliche Stimme begrüsst. Warum Dampfnudeln „Dampfnudeln“ heissen. Ob Frösche auch Schluckauf kriegen. Wie man das Ding nennt, mit dem man im Laden auf dem Fliessband seine Waren von jenen des nächsten Kunden trennt. Ob Schöftland eine Königin hat. Wie man ein Fixleintuch richtig zusammenlegt… Fragen über Fragen.

„Man weiss so wenig!“ Würde Erich Kästner dazu sagen.

Déformation professionelle

Gestern im Zug habe ich eine Todsünde begangen. Ich habe mich an einem Freitagabend von Aarau her kommend im Stossverkehr über zwei Sitze ausgebreitet und mich im HB Zürich nicht auf einen Sitz reduziert. Der Zug füllte sich zunehmends, doch ich fand, so lange die beiden Herren im Abteil nebenan nur zu zweit waren und wir schon zu dritt, müsse ich meinen zweiten Platz nicht hergeben. Prompt kam ein Herr so Ende Vierzig und sagte in giftigem Ton: „Ist da noch frei oder haben Sie zwei Plätze bezahlt?“ Dann beging ich die zweite Todsünde: Ich wies den Herrn darauf hin, dass im Abteil nebenan noch reichlich Platz frei sei. Das ging natürlich gar nicht. Der Endvierziger legte jetzt erst richtig los und erteilte mir in schulmeisterlichem Ton eine Lektion über Anstand und richtiges Verhalten beim Pendeln. Ich maulte noch ein bisschen rum, weil mich sein Ton nervte, räumte aber meine Sachen weg, denn in der Sache hatte er ja recht. Der Herr setzte sich, nicht ohne mir ein siegesbissiges „Danke“ zuzusäuseln. Als er sich installiert hatte, zog er – wie hätte es anders sein können – einen Stapel Aufsatzhefte seiner Schüler aus seinem Rucksack. Mit rotem Filzstift begann er die Aufsätze zum Thema „Ist das Handy gut oder schlecht?“ zu korrigieren. Ich feixte von einem Ohr zum anderen: Ich wusste doch, dass das ein Lehrer sein musste! Dann guckte ich ihm eine Weile beim Korrigieren zu, denn schliesslich ist der Schulmeister nicht der Einzige, der an einer Déformation professionelle leidet. Und ich muss sagen, er war mit seinen Schülerinnen und Schülern beim Korrigieren bedeutend gnädiger als mit seinen Mitreisenden beim Lektorieren.

Faszination des Grauens

Gestern Abend im Zug hatte ich mein ultimatives Pendlererlebnis, das ich euch nicht vorenthalten möchte. Ich war am frühen Abend unterwegs und teilte mein Zugabteil mit einer pummeligen billig geschminkten jungen Frau. Sie sass völlig ausdruckslos vis-à-vis, plötzlich fing sie zu reden an. Es dauerte einen kurzen Moment, bis ich realisierte, dass sie in das Mikrofon ihres Headsets sprach. Aber auch sonst stimmte da irgendetwas nicht. Ich konnte die Frau kaum verstehen. Irgendwie wollte es mit der Artikulation nicht so ganz klappen. War die so besoffen? Ich begann, das Gespräch aufmerksamer mitzuhören, und da wurde mir langsam klar, dass sie ihrer Kollegin am Telefon davon erzählte, wie sie sich gerade ihr Zungen-Piercing habe stechen lassen. „Nein, ich konnde heude nich arbeiden, ich kann ja nich eden“, lallte sie. Das konnte ich bestätigen. „Ja, voll geschwollen … Die wa dodal budal, die had mich nich mal bedäubd. Dann kam die scho mid eine Nade. Dann habe ich schie gefagd, wasch schie denn mid de Nade wolle … Nein, schag ich doch, die had mich nich mal bedäubd!“ Mir zog sich alles zusammen. Wollte ich das alles wirklich hören? Doch die Faszination des Grauens fesselte mich an den Sitz. „Dann had die mi die Nadel voll in die Schunge geammd.“ Esch kam ga nich viel Blud … Jesch is esch scho hellblau… Wad schnell.“ Plötzlich hob die Frau das Handy vors Gesicht, teilte ihre orange angemalten Lippen und schob ihren Unterkiefer leicht nach vorne. Um die Zunge richtig herauszustrecken, fehlte ihr offenbar die Kraft. Dummerweise hielt sie sich auf der Suche nach dem richtigen Winkel fürs Foto das Handy direkt vor den Mund, sodass ich nichts mehr sehen konnte. Aber dann sagte ich mir: Warum bist du eigentlich so verdammt diskret, wenn die hier so hemmungslos ihre eklige Piercing-Story zum besten gibt? Das kannst du dir doch jetzt nicht entgehen lassen! Ich erhob mich und schaute ihr von oben direkt auf den Mund. Leider war das der jungen Frau dann aber doch irgendwie unangenehm. Sie stand auf und verzog sich für das Zungen-Piercing-Selfie in ein anderes Abteil. Und so entging mir leider das Bild der hellblauen Zunge mit Loch.

Zungenpiercing